Abschied von einem zerrissenen Land

Ende Januar jährte sich die ägyptische Revolution zum fünften Mal.

Fast fünf Jahre vor diesem historischen Ereignis war ich nach Ägypten gezogen, um von dort aus über den Nahen Osten zu berichten. Wenn ich gefragt wurde, wie lange ich in Ägypten bleiben wollte, dann sagte ich immer: „Solange, bis Mubarak geht.“ Ich konnte natürlich nicht wissen, dass er durch einen Volksaufstand aus dem Amt gejagt und ich als Berichterstatterin aus nächster Nähe dabei sein würde. Aber es war klar, dass es in irgendeiner Weise das Land verändern würde, wenn er nach 30 Jahren an der Macht sein Amt endlich aufgeben müsste. Es gab so viele Möglichkeiten, was passieren könnte, aber an eine Revolution des Volkes hätte ich im Traum nicht gedacht.

Die Ägypter revoltieren nicht. Das war Jahrzehntelang die gängige Meinung unter Ägyptern und Experten aus dem Ausland. Dabei hatten die Ägypter allen Grund, sich gegen ihre Lebensumstände und das Regime Hosni Mubaraks aufzulehnen. 40 Millionen Ägypter, die Hälfte der Bevölkerung, leben in Armut, sie müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Nur einige wenige im Land profitierten vom wirtschaftlichen Aufschwung, den das Land vor der Revolution erlebte. Die Schere zwischen Arm und Reich wurde immer größer. Zur Armut gesellten sich zudem Unterdrückung, Vetternwirtschaft und Korruption, die sich durch alle Ebenen des Lebens zog. Der von Hosni Mubarak aufgebaute Polizeiapparat umfasste fast 1,5 Millionen Mann, die hauptsächlich damit beschäftigt waren, das Regime zu stützen anstatt im Dienst des Bürgers zu stehen. Der Sicherheitsapparat war zu einem Instrument der Unterdrückung geworden. Machtmissbrauch, Überwachung, Drohungen und Folter waren in Ägypten an der Tagesordnung. Mit diesem Machtapparat im Rücken, der jede Opposition im Keim erstickte, hatte Hosni Mubarak 30 Jahre lang die Macht am Nil monopolisiert. Und es sah alles danach aus, als würde sein Sohn Gamal die Nachfolge als Staatschef antreten.

Als ich während der Jasmine-Revolution in Tunesien gefragt wurde, ob etwas Ähnliches in Ägypten vorstellbar sei, verwies ich darauf, wie sehr sich beide Länder unterschieden. Obwohl ich seit 2006 regelmäßig über die Demokratie-Bewegung im Land berichtet hatte und viele Blogger und Aktivisten persönlich kannte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Hosni Mubarak und sein Regime ähnlich schnell wie das Regime in Tunesien gestürzt werden könnten. Die für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit kämpfenden ägyptischen Blogger und Aktivisten, die ich seit 2006 regelmäßig getroffen hatte, begeisterten mich mit ihrem Mut. Sie gaben mir Hoffnung, dass sich irgendwann etwas grundlegend ändern würde in Ägypten, doch nie hätte ich mit dem gerechnet, was am 25. Januar 2011 seinen Anfang nahm. Zu oft hatte ich gesehen, wie diese unerschrockenen Menschen dem übermächtigen Polizeiapparat die Stirn geboten hatten, und wie sie dann von den Sicherheitskräften durch die Straßen Kairos gejagt, bedroht, verhaftet und gefoltert worden waren.

In den ersten 18 Tagen der Revolution habe ich wohl jede Facette der Gefühlspalette durchlebt – Erstaunen, Freude, Wut, Sorge und Trauer. Nie werde ich das Gefühl vergessen, als ich am 1. Februar vom Tahrir-Platz über die Kasr El-Nil-Brücke Richtung Zamalek lief. Die Stimmung am Tahrir war entspannt, freudig, fast ausgelassen gewesen, und es waren wieder Hunderttausende gekommen. Die Stimmung war ansteckend gewesen, selten hatte ich so viele glückliche Gesichter, so viel Optimismus und vor allem so viel politischen Austausch zwischen den Ägyptern gesehen. Es standen Junge und Alte beisammen, Kopten und Muslime, ich verfolgte eine Diskussion zwischen einem Liberalen und einem Moslembruder, sah verschleierte und unverschleierte Frauen, Reiche und Arme und sie alle hatten das gleiche Ziel: mit friedlichen Mittel einen politischen Wandel hervorzurufen. Es war, als ob die Ägypter mit einem Mal ihre Stimme gefunden hätten und sie alle riefen immer wieder das gleiche: Tritt ab, Hosni Mubarak! Es war keine Bitte, es war eine klare Forderung. Es fühlte sich an, als ob ein ganzes Volk jahrzehntelang alle möglichen Erniedrigungen ertragen hatte und nun das Fass zum Überlaufen gekommen war. Sie waren entschlossen, sich endlich ihre Rechte zu nehmen. Auf friedlichem, demokratischem Weg. Schon alleine damit haben die Ägypter alle die Lügen gestraft, die immer wieder behauptet hatten, die Araber seien nicht fähig zur Demokratie. Es waren nur schlichtweg die korrupten Machthaber, die kein Interesse an freiheitlichen Strukturen hatten.

Nach dem Sturz Mubaraks folgte eine Phase der Euphorie in Ägypten und das Gefühl, dass politischer Wandel tatsächlich möglich sei. Die Ägypter wurden zum ersten Mal in einen politischen Prozess eingebunden, es fanden freie Wahlen statt, ein Referendum zur Verfassungsreform wurde abgehalten, ebenso Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen. Doch auch in diesen Monaten des Aufbruchs gab es immer wieder Rückschläge für die Demokratiebewegung. Das Parlament bestand nach der Wahl zu einer großen Mehrheit aus Islamisten und auch der erste frei gewählte Staatschef Ägyptens, Mohammed Mursi kam aus diesem Lager. Viele, die auf dem Tahrir-Platz für Freiheit, Gleichheit und Demokratie gekämpft hatten, fühlten sich betrogen und fürchteten eine erneute Autokratie, dieses Mal im Namen der Religion.

Heute ist die kurze Phase der Euphorie nach dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 längst Hoffnungslosigkeit und Resignation gewichen. Nichts scheint besser, aber vieles scheint schlimmer geworden zu sein. Statt Mubaraks Clique herrscht nun das Militär über Ägypten und das mit härterer Hand als das alte Regime. Die politische Opposition existiert nicht mehr. Wer sich traut, die Machthaber anzugreifen muss damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen, wo Tausende darauf warten, endlich freigelassen zu werden oder zumindest ein faires Gerichtsverfahren zu bekommen.

Die Ägypter sind bekannt für ihren Humor. Selbst über ihre Fähigkeit der Unterwerfung und der Hinnahme von Ungerechtigkeit machten sie jahrelang Witze. Nichts ist vor ihrem Humor sicher. Im Jahr nach der Revolution schrieb die ägyptische Autorin Ghada Abdelaal in einer Bestandsaufnahme über das Geschehene: „Ich war immer an vorderster Front dabei, wenn es um Scherze und Satire ging; aber mittlerweile muss ich mir eingestehen, dass es nichts mehr zu lachen gibt. Auch wenn wir Ägypter durch die hohe Schule der Ironie gegangen sind – jetzt schaffen wir es nicht mehr, uns wie gewohnt mit einem Witz über unsere Probleme hinwegzusetzen. Denn wir sehen, dass die Forderung nach Freiheit und Demokratie, die wir mit unserer Revolte durchgesetzt zu haben glauben, zu einem Instrument verbogen wird, das womöglich noch mehr Zwang über uns bringen und uns weniger Freiheit lassen könnte denn je.“ Ihre Sorge ist vier Jahre später zu trauriger Realität geworden. Heute gibt es weniger Freiheit in Ägypten als in den Jahren vor der Revolution. Das Militär unter Machthaber Abdel Fatah Al-Sisi drangsaliert sein Volk und rechtfertigt jede Einschränkung der persönlichen Freiheit mit dem Kampf gegen den Terrorismus.

Heute ist es in Ägypten sogar gefährlich, Witze zu machen. Der bekannte und in der ganzen arabischen Welt beliebte Satiriker Bassem Youssef, der nach der Revolution eine höchst erfolgreiche Late-Night-Show im ägyptischen Fernsehen moderierte, musste seine Sendung aufgeben und hat mittlerweile das Land verlassen. Auch viele bekannte Fernseh-Journalisten leben heute im Ausland, weil sie sich in Ägypten nicht mehr sicher fühlten und ihre Sendungen abgesetzt wurden. Jedwede Kritik an der politischen Führung des Landes wird als Gefährdung der inneren Sicherheit ausgelegt und kann in einer Gefängnisstrafe enden. Tausende Aktivisten, Journalisten, Fotografen, Schriftsteller und einfache Bürger sitzen in ägyptischen Gefängnissen, die politische Opposition ist mundtot und auch sonst duldet das Regime keine Kritik.

Aber nicht nur politisch ist die Lage in Ägypten heute schwieriger als noch zu Mubaraks Zeiten. Das Land erlebt gerade eine schwere Wirtschaftskrise, das ägyptische Pfund wurde abgewertet und die Regierung hat dem Land ein Sparprogramm auferlegt und Wirtschaftsreformen verordnet. Steuern wurden erhöht, Subventionen abgeschafft und die Inflation treibt die Preise von Grundnahrungsmitteln so drastisch in die Höhe, dass vor allem die Ärmsten in Ägypten nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Auch krank sollte man zurzeit nicht werden, denn die Wirtschaftskrise hat auch die Apotheken und Krankenhäuser erreicht, wo oft lebensrettende Medikamente fehlen. Die Preise für Medikamente sind derart in die Höhe geschnellt, dass viele Ägypter auf Naturmedizin umsteigen und sich auf dem Kräutermarkt eindecken.

Ende November stieg eine 30-jährige Hausfrau, deren Mann Tagelöhner ist, am Tahrir-Platz auf eine riesige Werbetafel und drohte damit sich in den Tod zu stürzen. Vor fünf Jahren waren es die Frauen, die der Motor der politischen Revolution waren und mich am meisten beeindruckten mit ihrem Mut und ihrem Willen, die korrupten Machthaber zu stürzen. Heute steigen sie auf Werbetafeln, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Familie durch den nächsten Tag bringen sollen.

Mit Blick auf die vergangenen, turbulenten fünf Jahre, verklären viele die Zeit vor der Revolution. Unter Mubarak war das Leben weniger chaotisch, jedes Jahr glich dem anderen. Heute weiß niemand, was die nächsten Monate bringen. Das Militär scheint das Land mit eiserner Faust zu regieren. Doch werden die hungrigen Massen so in Schach zu halten sein? Oder wird es eine erneute Revolte geben, dieses Mal eine Revolte der Armen, der Hungrigen? Ägypten ist heute auch deshalb ein zerrissenes Land in dem nichts vorhersehbar ist, weil am 25. Januar 2011 der gordische Knoten zerschlagen wurde. Der Status quo, der jahrzehntelang galt, das ungeschriebene Gesetz, dass sich die Ägypter nicht auflehnen, dass sie zu lethargisch und seit der Zeit der Pharaonen daran gewöhnt seien, mit harter Hand von einer übermächtigen Figur geführt zu werden, wurde ad-acta gelegt. Die Ägypter wissen jetzt dass es möglich ist, sich von autokratischen Machthabern zu befreien. Nicht nur Mubarak haben sie aus dem Amt gejagt, auch Mohammed Mursi wurde nach tagelangen Massenprotesten durch einen Militärputsch abgesetzt. Zudem haben Menschen, die Hunger leiden und keine Zukunft für sich sehen, keine Angst vor den Waffen des Militärs.

Ja, Ägypten war ein ruhiges, entspanntes Land, als ich 2006 anfing, von dort zu berichten. Die Menschen haben vieles hingenommen und waren sich oft nicht bewusst, was für Unrecht ihnen und ihren Mitmenschen tagtäglich widerfährt. Über Politik wurde nicht gesprochen. Das Leben plätscherte vor sich hin.

Heute ist das anders. Die Menschen verstehen, was mit ihnen passiert. Viele sind wütend, viele hoffnungslos, andere haben sich zurückgezogen und es herrscht fast eine kollektive Depression, aber sie alle haben erlebt was passieren kann, wenn sich die Masse erhebt und mit einer Stimme spricht. Der Stolz, mit dem die Ägypter auf dem Tahrir-Platz riefen: „Erhebe Deinen Kopf, Du bist Ägypter“, verursacht bei mir immer noch Gänsehaut. Eine Saat wurde vor fünf Jahren gesät, die irgendwann aufgehen wird, da bin ich mir sicher. Wird es wieder eine friedliche Revolution sein? Vermutlich nicht.

Schon im März 2012 schrieb die Autorin Ghada Abdelaal in ihrem Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung: „Wenn der demokratische Prozess in Ägypten mit solchen Fehlern und Mängeln behaftet ist und diese weiterhin unbeachtet und ohne Korrektur bleiben, dann könnten wir bald vor einem Scheideweg stehen, der keine dritte Option offenlässt. Entweder gibt es eine erneute Revolte, wenn die Wut jener jungen Generation überkocht, die den Glauben an die so lange erträumte Demokratie zu verlieren droht; oder wir ziehen uns alle resigniert zurück und schauen zu, wie sich bei uns das Szenario anderer Revolutionen wiederholt – Revolutionen, die von einer Quelle der Hoffnung zum bitteren Kelch geworden sind; Revolutionen, deren Vorkämpfer erneut zum Warten, zu Angst und Sorge verdammt sind – und zum Lachen über Dinge, die niemals zum Lachen waren.“

Ägypten steht an diesem Scheideweg. Ich werde die Geschehnisse ab jetzt aus der Ferne beobachten, aber Ägypten wird für immer ein Teil von mir sein und ich werde zurückkehren, irgendwann, ganz bestimmt. Denn wie ein bekanntes ägyptisches Sprichwort besagt: „Wer einmal vom Wasser des Nils getrunken hat, wird immer wiederkehren.“

Heimliche Fluchten

Lassen Sie uns über die Liebe sprechen. Im Grund genommen ist es ja überall gleich: zwei Menschen treffen sich, die Chemie stimmt, sie verlieben sich und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Trotzdem gibt es natürlich kulturelle Unterschiede. Für die meisten Ägypter ist zum Beispiel das sich kennenlernen sehr viel schwieriger als in Deutschland. Denn vor-eheliche Beziehungen sind nur dann erlaubt, wenn es feste Absichten gibt und sie strengstens von der Familie überwacht werden. Aber verliebte Menschen finden immer einen Weg, egal wie streng die Traditionen und die gesellschaftlichen Normen sind. So gibt es in Kairo zum Beispiel etliche Orte an denen man verliebte Pärchen beobachten kann, die sich kleine Momente der Zweisamkeit stehlen. In meinem Viertel gibt es eine kleine Seitenstraße, die entlang des Nils führt. Im Volksmund wird sie die Liebesstraße genannt, weil sich dort bei Tag und Nacht junge Menschen treffen, Händchen halten und versuchen, sich näher zu kommen. Wer hier wohnt und abends auf seinem Balkon steht kann sehen, was keiner sehen soll. Schon lange vor Sonnenuntergang reiht sich ein Auto an das andere, an die hundert Liebespaare sind es an manchem Abend. Fast alle Mädchen tragen Kopftuch, doch ihre langärmligen Tops sitzen umso enger. Unauffällig legt ein Junge den Arm um den Hals seiner Freundin, so fest, dass seine Hand wie zufällig in ihrem Dekolleté landet. Aber wo sollen diese verliebten Menschen, die sich nach Intimität sehnen, auch hin? Bis zur Ehe lebt man bei seinen Eltern und ins Hotel kann man auch nicht, weil es unverheirateten ägyptischen Paaren nicht gestattet ist, sich ein Hotelzimmer zu teilen. Küssen in der Öffentlichkeit ist verboten und kann bestraft werden. Es bleiben also nur die heimlichen, versteckten Fluchten, das „versehentliche“ Berühren, verstohlene, schnelle Küsse in der Dunkelheit. Es ist kein Wunder, dass so viele junge Ägypter frustriert sind. Aber die Prüderie hat jetzt eine neue Dimension erreicht. Anfang des Jahres wurde der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er habe sich der Erregung öffentlichen Ärgernisses schuldig gemacht, war die Begründung des Gerichts. Sein Vergehen: In der Literaturzeitung Akhbar al-Adab waren Auszüge aus seinem Roman „Gebrauchsanweisung für das Leben“ erschienen. Ein Anwalt hatte daraufhin Klage eingereicht, es wird ihm vorgeworfen, pornografisches Material geschrieben und veröffentlicht zu haben. Nun bleibt den jungen Menschen noch nicht einmal mehr die Literatur als Flucht.

„Conceptions of Space: Curating Art, Architecture and City“

Balassi Institut, 13 Gawad Hosni Straße, Downtown Kairo an einem warmen Sonntagabend Anfang April. D-CAF Festival. Beginn der Veranstaltung ist 19 Uhr. In Kairo ist nie jemand pünktlich, aber schon jetzt ist der Saal zur Hälfte gefüllt, eine halbe Stunde später müssen extra Stühle in den Raum gebracht werden, der auch gut als Tanzstudio dienen können, mit seiner Fläche, den Holzdielen und großen, weißen Wänden.

Pedro Gadanho sieht sympathisch aus. Er trägt eine dunkel umrandete Brille, ein braunes Poloshirt und hat sanfte, zugängliche Gesichtszüge. Nichts an ihm wirkt abgehoben oder überheblich. Er spricht klar und leidenschaftlich über sein Thema: „Conceptions of Space: Curating Art, Architecture and City.“ Drei Jahre lang war der portugiesische Architekt Kurator am Museum of Modern Art (MOMA) in New York. Nun wird er das Museum of Art, Architecture and Technology (MAAT) in Lissabon leiten, das im Oktober offiziell seine Türen öffnet. Die erste Ausstellung widmet sich dem Thema „Utopia and Dystopia“. Die Ausstellung will die Idee der Utopie und der Dystopie durch die Augen von Künstlern und Architekten diskutieren, wie Gadanho erklärt.

Kurator Pedro Gadanho (links) und Omar Nagati (CLUSTER) im Gespräch
Kurator Pedro Gadanho (links) und Omar Nagati (CLUSTER) im Gespräch

Man nimmt ihm sofort ab, dass er davon überzeugt ist, dass Künstler und Architekten mit ihren Ideen und Projekten die Welt verändern können. Zumindest Impulse setzen können, die zu Veränderung führen. „Als ein Architekt verändert man immer urbane Orte mit seiner Arbeit“, sagt Gadanho. Deshalb könnten Architekten auch eine politische Rolle spielen. „Architekten können eine Gemeinschaft mit ihrer Arbeit ermächtigen.“ Er spricht an diesem Abend in Kairo zum Beispiel über die Verwendung und Inszenierung von Raum. Er zeigt das Bild eines Baus in einem Armenviertel in Bogota. Dort hat ein Architekt ein futuristisch anmutendes Riesen-Zeltdach mit langen Säulen auf einen Platz gebaut. Wo vorher die Sonne auf einen Grünstreifen knallte, können sich die Bewohner nun im Schatten ausruhen, sitzen, sprechen, miteinander in Kontakt treten. „Es ist ein künstlichere Tätigkeit aber Du reagierst auch auf Probleme, die Du nicht an der Seite liegen lassen kannst.“ Architektur kann Veränderung hervorrufen. Auf einem anderen Foto zeigt Pedro Gadanho einen großen Platz in Brasilien. Jahrelang sei er geplant und umgebaut worden und am Ende, als der Platz endlich fertiggestellt war, habe jegliche Beziehung zu den Menschen, die diesen Platz bevölkern, die um ihn herum wohnen, gefehlt. Es war einfach eine leere, weite Fläche entstanden. Doch die Menschen wollten sich ihren Platz nicht nehmen lassen und eroberten ihn sich wieder, durch Aktionen und eigene Initiativen. Architektur und Kunst greifen aber auch oft da, wo die Politik versagt. Da war zum Beispiel die Künstlerin, die mit Kreide einen Zebrastreifen an die Stelle einer Straße malte, an der kurz zuvor ein Kind überfahren wurde. Mit einem Zebrastreifen wäre dieses Unglück möglicherweise nicht geschehen. „Natürlich ist die Kreide nach kurzer Zeit wieder verschwunden, aber es ist ein Zeichen, das gesetzt wird“, sagt Gadanho. Ein anderer Künstler malte Zebrastreifen mit Farbe aus, die kaum noch zu erkennen waren aber von den zuständigen Behörden nicht repariert wurden. Er nahm das also einfach in die eigenen Hand und leistete somit nicht nur einen Beitrag für die Sicherheit der Gesellschaft sondern lieferte auch gleich eine Gesellschaftskritik ab. So sinnvoll und treffend kann Kunst sein.

MAAT Lissabon
MAAT Lissabon

Auch die Arbeit des Kurators habe sich in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert, sagt Pedro Gadanho. „Kuratieren ist eine neue Art der Kritik.“ Museen würden sich verändern und heute eben auch soziale Verhältnisse debattieren. Eine Ausstellung könne ein größeres Publikum in eine Diskussion einführen und Informationen weitergegeben, anstatt nur schön zu sein. „Ich wollte immer Menschen erreichen und kritisches Denken anstoßen“, sagt Gadanho. Als Direktor des MAAT wird er dazu sicherlich reichlich Gelegenheit haben.

Außen- und Innenansicht

In den vergangenen Wochen wurde mir von verschiedenen Personen immer wieder die gleiche Frage gestellt: „Feierst Du Weihnachten?“ Eine Fragestellerin setzte noch ein „wenn ich fragen darf“ davor. Zuerst einmal sollte es jedem gestattet sein zu fragen. Ist ja keine unanständige Frage. Wir sollten endlich damit aufhören alles, was im weitesten Sinne mit Religion zu tun hat mit Samthandschuhen anzufassen. Es behindert meiner Meinung nach den Austausch untereinander und die Möglichkeit, sich näher kommen und füreinander Verständnis aufzubringen. Wer nicht fragt, der bleibt dumm. Das lernt schon jedes Kind in der Sesamstraße.

Erstaunlich fand ich die Frage zuerst einmal, weil sie sich für mich nie gestellt hätte. Natürlich feiere ich gemeinsam mit meiner Familie Weihnachten. Meine Mutter ist Deutsche, evangelisch erzogen, und meine Schwester und ich besuchten unsere ganze Schulzeit hindurch den evangelischen Religionsunterricht. Nicht aus tiefer religiöser Überzeugung, aber ich glaube es kam meinen Eltern nicht in den Sinn, uns vom Unterricht befreien zu lassen. Warum auch? Wir haben im Religionsunterreicht auch die anderen Weltreligionen behandelt sowie Ethik-Unterricht gehabt. Es hat uns auf jeden Fall nicht geschadet, auch wenn mir schon immer der philosophisch-ethisch-spirituelle Teil von Religion und Glaube mehr zugesagt hat als der theoretische des Buches. Ich glaube an keine der heiligen Schriften der Weltreligionen, die meiner Meinung nach alle politische Kreationen ihrer Zeit sind. Die Spiritualität eines Glaubens berührt mein Herz, lässt mich an etwas Höheres glauben, nicht die Autorität des Textes.

Schon unser Kindergarten war an eine evangelische Kirche angeschlossen und ich liebte das Erntedankfest in der Kirche, ebenso wie Besuche beim Krippenspiel und beim Weihnachtsmann. Obwohl bei uns zu Hause immer das Christkind kam, um die Geschenke zu bringen. Wenn die Glocke läutete wussten wir, dass es soweit war, das Christkind wieder davon geflogen war und wir den Weihnachtsbaum sehen durften. Was für ein schönes Ritual und wie dankbar ich meinen Eltern – allen voran meinem aufgeschlossenem Vater – dafür bin, uns dieses Geschenk gemacht zu haben. Wie soll man das seinem Kind auch erklären: Alle feiern, bekommen Geschenke und Du nicht? Es kommt natürlich noch ein wichtiger Faktor hinzu. Wir waren eingebettet in unsere deutsche Familie. Die Familie meines Vaters und jeglicher arabisch-muslimischer Einfluss waren sehr weit weg. Da war es ganz selbstverständlich, dass uns das Christentum näher war. Nicht aus Religiosität, aber weil eben Deutschland ein christlich geprägtes Land ist, in dem christliche und nicht muslimische Feiertage gefeiert werden und die meisten Jungen Christian und nicht Mohammed heißen.

Doch natürlich verstehe ich die Frage nach meiner Religionszugehörigkeit oder danach, ob ich Weihnachten feiere. Allerdings erst auf den zweiten Blick, wenn ich die Außenansichts-Brille aufsetze. Denn ich habe festgestellt, dass meine Innenansicht auf mich und mein Leben eine völlig andere ist, als das, was die Menschen von außen sehen oder projizieren. Allein mein Name lässt darauf schließen, dass ich möglicherweise Moslem bin. Ich heiße nicht Schmidt oder Müller sondern El Ahl.

Ich finde es interessant zu sehen, was Hautfarbe und Namen mit einem Menschen machen, wie wir alle sofort Schubladen öffnen, sortieren, einordnen. Ohne böse Hintergedanken, das geschieht wahrscheinlich ganz automatisch, wir sind darauf geeicht.

Wo kommst Du her? Das ist auch so eine Frage. Wenn ich dann wahrheitsgemäß antworte, dass ich aus Kassel komme, schauen die meisten erst einmal leicht irritiert. Denn natürlich passe ich mit meinen dunklen Augen und Haaren eher nach Italien als nach Nordhessen und werde oft für eine Südeuropäerin gehalten. In Spanien falle ich nicht weiter auf. In Nordhessen schon eher.

Aber auch in Ägypten werde ich nicht sofort als Dazugehörig eingeordnet. Ich habe zwar viel von meinem ägyptischen Vater, aber trotzdem steckten in mir natürlich deutsche Gene. Für die Ägypter bin ich zu Europäisch, zu groß, zu schlank, mit anderem Habitus als Ägypter und sicherlich auch subtileren Merkmalen, die sich nicht so leicht erklären lassen. Es ist auch die Art wie man sich verhält, wie man geht und schaut. Es sind meist die feinen kulturellen Eigenarten, die völlig unterbewusst ablaufen und einen von Anderen unterscheiden.

Ich bin fest davon überzeugt, dass ich in Ägypten – trotz meiner dunklen Haare und Augen – eher als „Fremde“ wahrgenommen werde als in Deutschland. Hier ist meine Heimat, hier muss ich nicht nachdenken über die feinen kulturellen Eigenarten, die ein Volk von einem anderen unterscheidet. Sie sind in meiner DNA, ich habe sie mit der Muttermilch aufgesogen. Hier bin ich wie ein Fisch im Wasser, muss nichts erklären und nicht über jeden Schritt den ich tue nachdenken. Ich denke und handele Deutsch. Zumindest meist. Denn natürlich werden in mir immer zwei sehr unterschiedliche Welten schlummern, die beide zu mir gehören und mich ausmachen.

Mein Vater hat zu uns Kindern immer gesagt: „Wir nehmen das Beste aus beiden Welten, tun es zusammen und kreieren damit etwas Neues.“ Ich weiß nicht ob er wusste, wie recht er damit hat. Beide Kulturen gehören zu mir und machen mich aus. Durch ihre Vermischung werde ich erst zu einem Ganzen.

Aber wenn es um Weihnachten geht, da bin ich ganz Deutsch. Da freue ich mich auf Vanillekipferl und Kerzen, das Schmücken des Weihnachtsbaums (der dieses Jahr besonders hübsch ist), die Bescherung sowie Gans mit Rotkohl im Kreise meiner Familie.

In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!

Der Mann mit den funkelnden Augen

Was für ein Glück ich hatte. Ich durfte diesen Mann persönlich treffen, ihm aus der Nähe in seine unwiderstehlichen, funkelnden, dunklen Augen schauen, ein paar freundliche Worte mit ihm wechseln, seinen Charme und seine außergewöhnliche Ausstrahlung erleben, die er trotz seines Alters nicht verloren hatte. Er war einer der größten Stars, die Ägypten je hervorgebracht hat und trotz seines Ruhms war er nahbar geblieben. Ein zuvorkommender, sympathischer und liebenswerter Mann. Omar Sharif. Die Legende. Der Weltstar. Gestern starb er in Kairo an einem Herzinfarkt im Alter von 83 Jahren.

Das erste Mal sah ich ihn in dem Jahr, in dem ich zum ersten Mal überhaupt in Kairo lebte. Es war 1996 und ich war eines Abends mit einer Gruppe Freunden zu einem Geburtstagsabendessen ins „Four Corner“ in Zamalek unterwegs, einer Gruppe von vier Restaurants, die alle nebeneinander in einem Gebäudekomplex lagen und die es heute leider nicht mehr gibt. Wir wollten gerade das italienische Lokal betreten, als Omar Sharif in Begleitung aus dem französischen Restaurant trat. Ich erkannte ihn nicht gleich, aber mein Freund Terrence wusste sofort, wer da auf den Fahrstuhl zuging, aus dem wir gerade herausgekommen waren. Er handelte instinktiv, ging auf Omar Sharif zu und gab ihm die Hand. Es war ein kurzes, freundliches Geplauder auf Französisch und dann war der Weltstar im Lift verschwunden. Ich konnte nur staunen.

Ein paar Jahre später sah ich ihn wieder. Dieses Mal war ich mit einer Gruppe Freunden im Abu Seid in Zamalek zum Abendessen verabredet, damals eines der beliebtesten ägyptischen Restaurants der Stadt. Als ich das Lokal betrat, an dessen Wänden nostalgische Porträts der großen Stars Ägyptens aus dem 20. Jahrhundert hängen, sah ich ihn sofort. Er saß an einem großen, runden Tisch direkt am Eingang. Wir bekamen einen Tisch weiter hinten im Raum, doch später am Abend musste Omar Sharif direkt an unserem Tisch vorbei. In unserer Runde befanden sich außer einem Freund nur Mädchen. Omar Sharif kam an unserem Tisch vorbei, lächelte uns freundlich an, blieb kurz stehen und klopfte dem Jungen anerkennend auf die Schulter. „So gut hätte ich es auch mal gerne“, scherzte er und lachte herzlich. Wir waren alle sofort verliebt. Eine meiner Freundinnen fasste sich ein Herz und fragte, ob es in Ordnung sei, wenn wir mit ihm ein Foto machen würden. Ich hatte das Gefühl, es schmeichelte ihn ungemein, dass ihn in seinem Alter noch so junge Mädchen nach einem Foto fragten. Wir waren Anfang 20, er etwa Mitte 70. Seine ganz großen Erfolge – Doktor Zhivago und Lawrence von Arabien – lagen Jahrzehnte zurück. Aber ich hatte Doktor Zhivago dutzende Mal gesehen, meine Schwester und ich waren als Kinder ganz vernarrt in dieses Melodram.

Damals, im Abu Seid drückte ich auf den Auslöser, während Omar Sharif meine Schwester und eine meiner besten Freundinnen im Arm hielt. Er genoss es sichtlich. Ich traute mich nicht, auch noch nach einem Foto zu fragen.

Aber Jahre später bekam ich dann meine Chance. Ich aß mit meiner Kollegin und Freundin Kristina Bergmann, damals Korrespondentin für die NZZ, in der „Trattoria“ in Zamalek zu Abend, einem kleinen Italiener, der von Tarek Sharif, dem einzigen Sohn Omar Sharifs betrieben wird. Durch Zufall war auch der berühmte Vater an diesem Abend zu Gast. Er saß mit seinem Freund Zahi Hawass, damals ägyptischer Antikenminister, zusammen und die Männer unterhielten sich angeregt. Wahrscheinlich hätte ich mich wieder nicht getraut – ich halte viel von Privatsphäre und finde es unangenehm, Menschen beim Essen zu stören. Aber Kristina, die schon etwa zwei Jahrzehnte in Kairo lebte, kannte zum einen Zahi Hawass und sammelte zudem schon seit Jahren Porträts mit bekannten Menschen aus der arabischen Welt, die sie während ihrer unzähligen Recherchen und Interviews traf. Sie ging also zu den beiden Herren hinüber und fragte, ob Omar Sharif bereit wäre, ein Foto mit ihr zu machen. Wieder war ich es, die auf den Auslöser drückte, aber dieses Mal nahm ich mir ein Herz und bat darum, als Gegenleistung auch ein gemeinsames Foto machen zu dürfen. Es war ein kurzes aber wieder sehr freundliches Zusammentreffen. Ja, und seine Augen funkelnden immer noch, obwohl er schon stark auf die 80 Jahre zuging. Er hatte nichts von seinem Charme und seiner Ausstrahlung eingebüßt.

Ich bin dankbar, ihn persönlich kennengelernt zu haben, auch wenn es immer nur kurze Zusammentreffen waren. Er war ein außergewöhnlicher Mann und der Held meiner Kindheit, in der ich von dem schönen, romantischen Doktor Zhivago schwärmte, obwohl der Film schon 1965 gedreht wurde. Wir müssen ihn zu Hause auf Videokassette gehabt haben und er gehörte zu den Filmen – darunter auch „Vom Winde Verweht“, „Annie“ und „A Chorus Line“ – die meine Schwester und ich immer wieder hervorkramten und nie müde wurden, noch einmal zu sehen. Jetzt ist dieser Held, diese Filmlegende gestorben. Er wird vermisst werden, vor allem von seinem einzigen Sohn Tarek, der innerhalb weniger Monate beide Eltern verloren hat. Faten Hamama, die große Liebe von Omar Sharif, die Frau, für die er zum Islam konvertierte, starb am 17. Januar diesen Jahres.

Omar Sharif und ich im Oktober 2010 in der Trattoria seines Sohnes Tarek
Omar Sharif und ich im Oktober 2010 in der Trattoria seines Sohnes Tarek