Abschied von einem zerrissenen Land

Ende Januar jährte sich die ägyptische Revolution zum fünften Mal.

Fast fünf Jahre vor diesem historischen Ereignis war ich nach Ägypten gezogen, um von dort aus über den Nahen Osten zu berichten. Wenn ich gefragt wurde, wie lange ich in Ägypten bleiben wollte, dann sagte ich immer: „Solange, bis Mubarak geht.“ Ich konnte natürlich nicht wissen, dass er durch einen Volksaufstand aus dem Amt gejagt und ich als Berichterstatterin aus nächster Nähe dabei sein würde. Aber es war klar, dass es in irgendeiner Weise das Land verändern würde, wenn er nach 30 Jahren an der Macht sein Amt endlich aufgeben müsste. Es gab so viele Möglichkeiten, was passieren könnte, aber an eine Revolution des Volkes hätte ich im Traum nicht gedacht.

Die Ägypter revoltieren nicht. Das war Jahrzehntelang die gängige Meinung unter Ägyptern und Experten aus dem Ausland. Dabei hatten die Ägypter allen Grund, sich gegen ihre Lebensumstände und das Regime Hosni Mubaraks aufzulehnen. 40 Millionen Ägypter, die Hälfte der Bevölkerung, leben in Armut, sie müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Nur einige wenige im Land profitierten vom wirtschaftlichen Aufschwung, den das Land vor der Revolution erlebte. Die Schere zwischen Arm und Reich wurde immer größer. Zur Armut gesellten sich zudem Unterdrückung, Vetternwirtschaft und Korruption, die sich durch alle Ebenen des Lebens zog. Der von Hosni Mubarak aufgebaute Polizeiapparat umfasste fast 1,5 Millionen Mann, die hauptsächlich damit beschäftigt waren, das Regime zu stützen anstatt im Dienst des Bürgers zu stehen. Der Sicherheitsapparat war zu einem Instrument der Unterdrückung geworden. Machtmissbrauch, Überwachung, Drohungen und Folter waren in Ägypten an der Tagesordnung. Mit diesem Machtapparat im Rücken, der jede Opposition im Keim erstickte, hatte Hosni Mubarak 30 Jahre lang die Macht am Nil monopolisiert. Und es sah alles danach aus, als würde sein Sohn Gamal die Nachfolge als Staatschef antreten.

Als ich während der Jasmine-Revolution in Tunesien gefragt wurde, ob etwas Ähnliches in Ägypten vorstellbar sei, verwies ich darauf, wie sehr sich beide Länder unterschieden. Obwohl ich seit 2006 regelmäßig über die Demokratie-Bewegung im Land berichtet hatte und viele Blogger und Aktivisten persönlich kannte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass Hosni Mubarak und sein Regime ähnlich schnell wie das Regime in Tunesien gestürzt werden könnten. Die für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit kämpfenden ägyptischen Blogger und Aktivisten, die ich seit 2006 regelmäßig getroffen hatte, begeisterten mich mit ihrem Mut. Sie gaben mir Hoffnung, dass sich irgendwann etwas grundlegend ändern würde in Ägypten, doch nie hätte ich mit dem gerechnet, was am 25. Januar 2011 seinen Anfang nahm. Zu oft hatte ich gesehen, wie diese unerschrockenen Menschen dem übermächtigen Polizeiapparat die Stirn geboten hatten, und wie sie dann von den Sicherheitskräften durch die Straßen Kairos gejagt, bedroht, verhaftet und gefoltert worden waren.

In den ersten 18 Tagen der Revolution habe ich wohl jede Facette der Gefühlspalette durchlebt – Erstaunen, Freude, Wut, Sorge und Trauer. Nie werde ich das Gefühl vergessen, als ich am 1. Februar vom Tahrir-Platz über die Kasr El-Nil-Brücke Richtung Zamalek lief. Die Stimmung am Tahrir war entspannt, freudig, fast ausgelassen gewesen, und es waren wieder Hunderttausende gekommen. Die Stimmung war ansteckend gewesen, selten hatte ich so viele glückliche Gesichter, so viel Optimismus und vor allem so viel politischen Austausch zwischen den Ägyptern gesehen. Es standen Junge und Alte beisammen, Kopten und Muslime, ich verfolgte eine Diskussion zwischen einem Liberalen und einem Moslembruder, sah verschleierte und unverschleierte Frauen, Reiche und Arme und sie alle hatten das gleiche Ziel: mit friedlichen Mittel einen politischen Wandel hervorzurufen. Es war, als ob die Ägypter mit einem Mal ihre Stimme gefunden hätten und sie alle riefen immer wieder das gleiche: Tritt ab, Hosni Mubarak! Es war keine Bitte, es war eine klare Forderung. Es fühlte sich an, als ob ein ganzes Volk jahrzehntelang alle möglichen Erniedrigungen ertragen hatte und nun das Fass zum Überlaufen gekommen war. Sie waren entschlossen, sich endlich ihre Rechte zu nehmen. Auf friedlichem, demokratischem Weg. Schon alleine damit haben die Ägypter alle die Lügen gestraft, die immer wieder behauptet hatten, die Araber seien nicht fähig zur Demokratie. Es waren nur schlichtweg die korrupten Machthaber, die kein Interesse an freiheitlichen Strukturen hatten.

Nach dem Sturz Mubaraks folgte eine Phase der Euphorie in Ägypten und das Gefühl, dass politischer Wandel tatsächlich möglich sei. Die Ägypter wurden zum ersten Mal in einen politischen Prozess eingebunden, es fanden freie Wahlen statt, ein Referendum zur Verfassungsreform wurde abgehalten, ebenso Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen. Doch auch in diesen Monaten des Aufbruchs gab es immer wieder Rückschläge für die Demokratiebewegung. Das Parlament bestand nach der Wahl zu einer großen Mehrheit aus Islamisten und auch der erste frei gewählte Staatschef Ägyptens, Mohammed Mursi kam aus diesem Lager. Viele, die auf dem Tahrir-Platz für Freiheit, Gleichheit und Demokratie gekämpft hatten, fühlten sich betrogen und fürchteten eine erneute Autokratie, dieses Mal im Namen der Religion.

Heute ist die kurze Phase der Euphorie nach dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 längst Hoffnungslosigkeit und Resignation gewichen. Nichts scheint besser, aber vieles scheint schlimmer geworden zu sein. Statt Mubaraks Clique herrscht nun das Militär über Ägypten und das mit härterer Hand als das alte Regime. Die politische Opposition existiert nicht mehr. Wer sich traut, die Machthaber anzugreifen muss damit rechnen, ins Gefängnis zu kommen, wo Tausende darauf warten, endlich freigelassen zu werden oder zumindest ein faires Gerichtsverfahren zu bekommen.

Die Ägypter sind bekannt für ihren Humor. Selbst über ihre Fähigkeit der Unterwerfung und der Hinnahme von Ungerechtigkeit machten sie jahrelang Witze. Nichts ist vor ihrem Humor sicher. Im Jahr nach der Revolution schrieb die ägyptische Autorin Ghada Abdelaal in einer Bestandsaufnahme über das Geschehene: „Ich war immer an vorderster Front dabei, wenn es um Scherze und Satire ging; aber mittlerweile muss ich mir eingestehen, dass es nichts mehr zu lachen gibt. Auch wenn wir Ägypter durch die hohe Schule der Ironie gegangen sind – jetzt schaffen wir es nicht mehr, uns wie gewohnt mit einem Witz über unsere Probleme hinwegzusetzen. Denn wir sehen, dass die Forderung nach Freiheit und Demokratie, die wir mit unserer Revolte durchgesetzt zu haben glauben, zu einem Instrument verbogen wird, das womöglich noch mehr Zwang über uns bringen und uns weniger Freiheit lassen könnte denn je.“ Ihre Sorge ist vier Jahre später zu trauriger Realität geworden. Heute gibt es weniger Freiheit in Ägypten als in den Jahren vor der Revolution. Das Militär unter Machthaber Abdel Fatah Al-Sisi drangsaliert sein Volk und rechtfertigt jede Einschränkung der persönlichen Freiheit mit dem Kampf gegen den Terrorismus.

Heute ist es in Ägypten sogar gefährlich, Witze zu machen. Der bekannte und in der ganzen arabischen Welt beliebte Satiriker Bassem Youssef, der nach der Revolution eine höchst erfolgreiche Late-Night-Show im ägyptischen Fernsehen moderierte, musste seine Sendung aufgeben und hat mittlerweile das Land verlassen. Auch viele bekannte Fernseh-Journalisten leben heute im Ausland, weil sie sich in Ägypten nicht mehr sicher fühlten und ihre Sendungen abgesetzt wurden. Jedwede Kritik an der politischen Führung des Landes wird als Gefährdung der inneren Sicherheit ausgelegt und kann in einer Gefängnisstrafe enden. Tausende Aktivisten, Journalisten, Fotografen, Schriftsteller und einfache Bürger sitzen in ägyptischen Gefängnissen, die politische Opposition ist mundtot und auch sonst duldet das Regime keine Kritik.

Aber nicht nur politisch ist die Lage in Ägypten heute schwieriger als noch zu Mubaraks Zeiten. Das Land erlebt gerade eine schwere Wirtschaftskrise, das ägyptische Pfund wurde abgewertet und die Regierung hat dem Land ein Sparprogramm auferlegt und Wirtschaftsreformen verordnet. Steuern wurden erhöht, Subventionen abgeschafft und die Inflation treibt die Preise von Grundnahrungsmitteln so drastisch in die Höhe, dass vor allem die Ärmsten in Ägypten nicht mehr wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen. Auch krank sollte man zurzeit nicht werden, denn die Wirtschaftskrise hat auch die Apotheken und Krankenhäuser erreicht, wo oft lebensrettende Medikamente fehlen. Die Preise für Medikamente sind derart in die Höhe geschnellt, dass viele Ägypter auf Naturmedizin umsteigen und sich auf dem Kräutermarkt eindecken.

Ende November stieg eine 30-jährige Hausfrau, deren Mann Tagelöhner ist, am Tahrir-Platz auf eine riesige Werbetafel und drohte damit sich in den Tod zu stürzen. Vor fünf Jahren waren es die Frauen, die der Motor der politischen Revolution waren und mich am meisten beeindruckten mit ihrem Mut und ihrem Willen, die korrupten Machthaber zu stürzen. Heute steigen sie auf Werbetafeln, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Familie durch den nächsten Tag bringen sollen.

Mit Blick auf die vergangenen, turbulenten fünf Jahre, verklären viele die Zeit vor der Revolution. Unter Mubarak war das Leben weniger chaotisch, jedes Jahr glich dem anderen. Heute weiß niemand, was die nächsten Monate bringen. Das Militär scheint das Land mit eiserner Faust zu regieren. Doch werden die hungrigen Massen so in Schach zu halten sein? Oder wird es eine erneute Revolte geben, dieses Mal eine Revolte der Armen, der Hungrigen? Ägypten ist heute auch deshalb ein zerrissenes Land in dem nichts vorhersehbar ist, weil am 25. Januar 2011 der gordische Knoten zerschlagen wurde. Der Status quo, der jahrzehntelang galt, das ungeschriebene Gesetz, dass sich die Ägypter nicht auflehnen, dass sie zu lethargisch und seit der Zeit der Pharaonen daran gewöhnt seien, mit harter Hand von einer übermächtigen Figur geführt zu werden, wurde ad-acta gelegt. Die Ägypter wissen jetzt dass es möglich ist, sich von autokratischen Machthabern zu befreien. Nicht nur Mubarak haben sie aus dem Amt gejagt, auch Mohammed Mursi wurde nach tagelangen Massenprotesten durch einen Militärputsch abgesetzt. Zudem haben Menschen, die Hunger leiden und keine Zukunft für sich sehen, keine Angst vor den Waffen des Militärs.

Ja, Ägypten war ein ruhiges, entspanntes Land, als ich 2006 anfing, von dort zu berichten. Die Menschen haben vieles hingenommen und waren sich oft nicht bewusst, was für Unrecht ihnen und ihren Mitmenschen tagtäglich widerfährt. Über Politik wurde nicht gesprochen. Das Leben plätscherte vor sich hin.

Heute ist das anders. Die Menschen verstehen, was mit ihnen passiert. Viele sind wütend, viele hoffnungslos, andere haben sich zurückgezogen und es herrscht fast eine kollektive Depression, aber sie alle haben erlebt was passieren kann, wenn sich die Masse erhebt und mit einer Stimme spricht. Der Stolz, mit dem die Ägypter auf dem Tahrir-Platz riefen: „Erhebe Deinen Kopf, Du bist Ägypter“, verursacht bei mir immer noch Gänsehaut. Eine Saat wurde vor fünf Jahren gesät, die irgendwann aufgehen wird, da bin ich mir sicher. Wird es wieder eine friedliche Revolution sein? Vermutlich nicht.

Schon im März 2012 schrieb die Autorin Ghada Abdelaal in ihrem Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung: „Wenn der demokratische Prozess in Ägypten mit solchen Fehlern und Mängeln behaftet ist und diese weiterhin unbeachtet und ohne Korrektur bleiben, dann könnten wir bald vor einem Scheideweg stehen, der keine dritte Option offenlässt. Entweder gibt es eine erneute Revolte, wenn die Wut jener jungen Generation überkocht, die den Glauben an die so lange erträumte Demokratie zu verlieren droht; oder wir ziehen uns alle resigniert zurück und schauen zu, wie sich bei uns das Szenario anderer Revolutionen wiederholt – Revolutionen, die von einer Quelle der Hoffnung zum bitteren Kelch geworden sind; Revolutionen, deren Vorkämpfer erneut zum Warten, zu Angst und Sorge verdammt sind – und zum Lachen über Dinge, die niemals zum Lachen waren.“

Ägypten steht an diesem Scheideweg. Ich werde die Geschehnisse ab jetzt aus der Ferne beobachten, aber Ägypten wird für immer ein Teil von mir sein und ich werde zurückkehren, irgendwann, ganz bestimmt. Denn wie ein bekanntes ägyptisches Sprichwort besagt: „Wer einmal vom Wasser des Nils getrunken hat, wird immer wiederkehren.“

Das Fett muss weg

Das ägyptische Staatsfernsehen hat nicht das beste Image. Es ist altbacken und die Konkurrenz der internationalen Satellitensender ist groß. Dort ist alles moderner, besser, aufwändiger und meist auch professioneller. Um die einstürzenden Einschaltquoten zu verbessern, hat die frisch ernannte Chefin des ägyptischen Staatsfernsehens, Safaa Hegazy, eine radikale Entscheidung getroffen. Die ehemalige Fernsehmoderatorin hat acht übergewichtige Moderatorinnen vom Dienst befreit und sie aufgefordert auf Diät zu gehen. Sollten sie nicht innerhalb von drei Monaten an Gewicht verlieren, werden sie fortan nur noch hinter den Kulissen arbeiten können. Die Entscheidung wurde in den ägyptischen und den sozialen Medien kontrovers diskutiert und schaffte es sogar bis in die New York Times. Für die betroffenen Moderatorinnen ist diese öffentliche Diskussion natürlich eine persönliche Kränkung, denn es geht nicht um ihr Können, sondern um ihr Körperfett. In Ägypten – und der arabischen Welt im Allgemeinen – ist das Verhältnis zum Körper ein gespaltenes. Auf der einen Seite essen die Ägypter wahnsinnig gerne und wahnsinnig fett. Zudem ist ein wohlgenährter Körper auch traditionell immer ein Zeichen von Wohlstand gewesen, ebenso wie weiße Haut. Beides deutete an, dass man es nicht nötig hatte, harte, körperliche Arbeit auf dem Feld zu verrichten. Daher auch das Kompliment an Frauen: „Dein Gesicht sieht aus wie der Mond“, nämlich rund und weiß. Es gibt in Ägypten extrem viele krankhaft übergewichtige Menschen, schon kleinste Kinder sind betroffen, die gerne mit Kalorienbomben wie Chips, Schokokeksen und Cola gemästet werden. Doch auch in der arabischen Welt gibt es den genauen Gegentrend. Schönheits-Operationen bei Frauen sind sehr beliebt und der Fitness-Wahn hat natürlich auch vor Ägypten nicht halt gemacht, wo sich die High Society im Fitness-Club trifft, private Trainer den perfekten Körper schaffen und alle Trend-Sportarten, von Zumba zu Yoga, ausgeübt werden können. Die junge, moderne Frau aus der ägyptischen Oberschicht trägt Röhrenjeans zu modischem Top und will darin einen Top-Model-Körper. Das männliche Pendant pumpt derweil seine Muskeln im Fitness-Studio auf und hat Six-Pack. Das diese Menschen keine Lust haben, sich im Fernsehen übergewichtige Frauen (und Männer!) anzuschauen, ist verständlich. Doch reduziertes Körperfett allein wird die sinkenden Einschaltquoten nicht aufhalten. Vielleicht sollte Safaa Hegazy auch mal ins Programm schauen und nicht nur aufs Körperfett.

Heimliche Fluchten

Lassen Sie uns über die Liebe sprechen. Im Grund genommen ist es ja überall gleich: zwei Menschen treffen sich, die Chemie stimmt, sie verlieben sich und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Trotzdem gibt es natürlich kulturelle Unterschiede. Für die meisten Ägypter ist zum Beispiel das sich kennenlernen sehr viel schwieriger als in Deutschland. Denn vor-eheliche Beziehungen sind nur dann erlaubt, wenn es feste Absichten gibt und sie strengstens von der Familie überwacht werden. Aber verliebte Menschen finden immer einen Weg, egal wie streng die Traditionen und die gesellschaftlichen Normen sind. So gibt es in Kairo zum Beispiel etliche Orte an denen man verliebte Pärchen beobachten kann, die sich kleine Momente der Zweisamkeit stehlen. In meinem Viertel gibt es eine kleine Seitenstraße, die entlang des Nils führt. Im Volksmund wird sie die Liebesstraße genannt, weil sich dort bei Tag und Nacht junge Menschen treffen, Händchen halten und versuchen, sich näher zu kommen. Wer hier wohnt und abends auf seinem Balkon steht kann sehen, was keiner sehen soll. Schon lange vor Sonnenuntergang reiht sich ein Auto an das andere, an die hundert Liebespaare sind es an manchem Abend. Fast alle Mädchen tragen Kopftuch, doch ihre langärmligen Tops sitzen umso enger. Unauffällig legt ein Junge den Arm um den Hals seiner Freundin, so fest, dass seine Hand wie zufällig in ihrem Dekolleté landet. Aber wo sollen diese verliebten Menschen, die sich nach Intimität sehnen, auch hin? Bis zur Ehe lebt man bei seinen Eltern und ins Hotel kann man auch nicht, weil es unverheirateten ägyptischen Paaren nicht gestattet ist, sich ein Hotelzimmer zu teilen. Küssen in der Öffentlichkeit ist verboten und kann bestraft werden. Es bleiben also nur die heimlichen, versteckten Fluchten, das „versehentliche“ Berühren, verstohlene, schnelle Küsse in der Dunkelheit. Es ist kein Wunder, dass so viele junge Ägypter frustriert sind. Aber die Prüderie hat jetzt eine neue Dimension erreicht. Anfang des Jahres wurde der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er habe sich der Erregung öffentlichen Ärgernisses schuldig gemacht, war die Begründung des Gerichts. Sein Vergehen: In der Literaturzeitung Akhbar al-Adab waren Auszüge aus seinem Roman „Gebrauchsanweisung für das Leben“ erschienen. Ein Anwalt hatte daraufhin Klage eingereicht, es wird ihm vorgeworfen, pornografisches Material geschrieben und veröffentlicht zu haben. Nun bleibt den jungen Menschen noch nicht einmal mehr die Literatur als Flucht.

Das Lieblingsgebäck der Pharaonen

Einen Monat lang haben Muslime auf der ganzen Welt während des Ramadans von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gefastet. Das Ende des Ramadan wurde vor kurzem mit dem kleinen Fest, Eid al-Fitr genannt, begangen. Essentiell für diese Festtage ist natürlich – genau wie bei uns zu Weihnachten – das Essen. Die Familien kommen zusammen und feiern mit üppigen Mahlen das Ende ihres Fastenmonats. Ein Tisch, der sich nicht von der Last der aufgetischten Leckereien biegt, ist kein vollständig gedeckter Tisch. Etwas, was unbedingt zum Fest dazu gehört sind die Süßigkeiten und hier ganz besonders ein Keks namens Kahk. Dieser Keks, der vom Geschmack ein klein wenig an Vanillekipferl erinnert, soll schon von den Pharaonen gegessen worden sein. Sogar in ihren Gräbern haben die Pharaonen dieses Gebäck als Wandmalerei verewigen lassen. Die Kekse sind rund, was die Form der Sonne symbolisiert. Über die Jahrtausende hat sich an der Form nicht viel geändert, aber abhängig von Region und Familientradition hat jeder sein eigenes Geheimnis wie die Kahk am besten zubereitet werden. Manche reichen sie ungefüllt, andere bevorzugen eine Füllung mit Pistazien oder wahlweise mit Dattelmus. Eine Zutat darf nie fehlen: sehr viel Butter. In Ägypten, Libanon und Marokko wird meist Rosenwasser zum Teig gegeben, in Syrien hingegen lieber Orangenblütenwasser, was das ganze zu einer besonderen Spezialität werden lässt. Meine Mutter bekam mal vor vielen Jahren ein solches „geheimes“ Familienrezept von einer Cousine meines Vaters. Zurück zu Hause wollte sie es gleich ausprobieren. Obwohl sie alle Regeln befolgt hat, wurden aus den sonst im Mund zerfließenden Köstlichkeiten gefährlich harte Wurfgeschosse, mit denen man leicht ein Loch in die Wand hätte schlagen können. Ich erinnere mich noch gut an die Frustration meiner Mutter, die ewig Teig geknetet hatte. Wer das Backen lieber den Profis überlässt, sollte früh genug vor dem Fest bei der Konditorei seines Vertrauens vorbestellen, denn zum Fest selber kommt man an die Delikatesse dann kaum mehr heran. Schon Tage vorher stapeln sich bei „Koueidar Mandarin“, dem besten Bäcker Kairos, die Platten mit den in Puderzucker getauchten Keksen. In der Bäckerei ist kein Vorankommen, die Männer hinter dem Tresen wiegen Kilo um Kilo Süßwaren ab und am hinteren Ende des Ladens werden sie meisterlich zu festen Paketen geschnürt. Die Konditorei wird in diesen Tagen zum Fließbandbetrieb. Dem wohl-riechendstem der ganzen Stadt.

Vegan auf ägyptisch

Wenn ich längere Zeit nicht in Ägypten war, dann freue ich mich bei meiner Rückkehr auch immer ganz besonders auf das ägyptische Essen. Zu den Nationalgerichten gehört zu allererst Foul, braune Bohnen die meist in Fladenbrot und mit Öl serviert werden, aber auch in etlichen anderen Varianten zu haben sind, je nach Vorliebe mal mit Eiern, mal mit Zwiebeln und Petersilie gegessen werden. Felafel oder Tameya, wie die frittierten Bällchen aus grünen Bohnen in Ägypten auch heißen, werden ebenfalls meist in Fladenbrot serviert, am besten schmecken sie, wenn sie mit Tahina, der Sesamsauce und Salat gereicht werden. Foul und Felafel gibt es meist zum Frühstück, das der Ägypter erst am späten Morgen oder frühen Mittag zu sich nimmt. Überall in der Stadt gibt es fliegende Händler, die an der Straße stehen und aus ihrem fahrenden Stand heraus Foul oder Felafel servieren. Ein weiteres Lieblingsgericht sind frittierte Auberginen mit Tahina und Salat in Fladenbrot und ja, ich lüge nicht, Pommes in Fladenbrot. Das habe ich bis heute nicht verstanden. Aber die Ägypter kombinieren liebend gerne verschiedene Kohlehydrate miteinander. Zum Kartoffelauflauf gibt es selbstredend Reis und beides zusammen wird mit Brot in den Mund geschoben. Man muss es probieren, es schmeckt herrlich. Auf Diät sollte man auf jeden Fall nicht sein, wenn man seine Familie in Ägypten besucht. Das Nationalgericht schlechthin ist Molokheya, ein grünes Gemüse, das dem Spinat ähnelt, aber ganz anders schmeckt. Es wird sehr fein gehackt und zu einer Suppe verkocht, die zuletzt mit viel Knoblauch und Zwiebeln abgelöscht wird. Dazu wird Reis gereicht und wahlweise Hühnchen oder Kaninchen als fleischige Beilage. Überhaupt, das Fleisch. Eine Mahlzeit ohne Fleisch ist für den Ägypter keine Mahlzeit. Neulich traf ich einen Bekannten, der mir stolz erzählte, dass er sich seit ein paar Wochen vegan ernähre. Ich war mehr als überrascht. Veganismus ist in Ägypten nicht verbreitet, ich würde sogar behaupten, dass 90 Prozent der Bevölkerung das Wort noch nie gehört haben und das Konzept auch nicht verstehen würden. Der erwähnte Bekannte ist Schriftsteller und hat ein paar Monate im Ausland gelebt, trotzdem würde ich ihn nicht zu der Schicht Ägypter zählen, die sehr westlich orientiert ist, die neuesten Trends verfolgt und besonders gesundheitsbewusst lebt. Ich fragte ihn also, wie es läuft und wie er sich nun ernähren würde. „Es läuft wunderbar“, sagte er. „Ich verzichte auf alle tierischen Produkte, außer auf Rind und Hühnchen.“ So geht also Vegan auf ägyptisch. Aber mal ehrlich, wer will auch die Molokheya ohne Hühnchen essen?!