Heimliche Fluchten

Lassen Sie uns über die Liebe sprechen. Im Grund genommen ist es ja überall gleich: zwei Menschen treffen sich, die Chemie stimmt, sie verlieben sich und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Trotzdem gibt es natürlich kulturelle Unterschiede. Für die meisten Ägypter ist zum Beispiel das sich kennenlernen sehr viel schwieriger als in Deutschland. Denn vor-eheliche Beziehungen sind nur dann erlaubt, wenn es feste Absichten gibt und sie strengstens von der Familie überwacht werden. Aber verliebte Menschen finden immer einen Weg, egal wie streng die Traditionen und die gesellschaftlichen Normen sind. So gibt es in Kairo zum Beispiel etliche Orte an denen man verliebte Pärchen beobachten kann, die sich kleine Momente der Zweisamkeit stehlen. In meinem Viertel gibt es eine kleine Seitenstraße, die entlang des Nils führt. Im Volksmund wird sie die Liebesstraße genannt, weil sich dort bei Tag und Nacht junge Menschen treffen, Händchen halten und versuchen, sich näher zu kommen. Wer hier wohnt und abends auf seinem Balkon steht kann sehen, was keiner sehen soll. Schon lange vor Sonnenuntergang reiht sich ein Auto an das andere, an die hundert Liebespaare sind es an manchem Abend. Fast alle Mädchen tragen Kopftuch, doch ihre langärmligen Tops sitzen umso enger. Unauffällig legt ein Junge den Arm um den Hals seiner Freundin, so fest, dass seine Hand wie zufällig in ihrem Dekolleté landet. Aber wo sollen diese verliebten Menschen, die sich nach Intimität sehnen, auch hin? Bis zur Ehe lebt man bei seinen Eltern und ins Hotel kann man auch nicht, weil es unverheirateten ägyptischen Paaren nicht gestattet ist, sich ein Hotelzimmer zu teilen. Küssen in der Öffentlichkeit ist verboten und kann bestraft werden. Es bleiben also nur die heimlichen, versteckten Fluchten, das „versehentliche“ Berühren, verstohlene, schnelle Küsse in der Dunkelheit. Es ist kein Wunder, dass so viele junge Ägypter frustriert sind. Aber die Prüderie hat jetzt eine neue Dimension erreicht. Anfang des Jahres wurde der ägyptische Schriftsteller Ahmed Naji zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er habe sich der Erregung öffentlichen Ärgernisses schuldig gemacht, war die Begründung des Gerichts. Sein Vergehen: In der Literaturzeitung Akhbar al-Adab waren Auszüge aus seinem Roman „Gebrauchsanweisung für das Leben“ erschienen. Ein Anwalt hatte daraufhin Klage eingereicht, es wird ihm vorgeworfen, pornografisches Material geschrieben und veröffentlicht zu haben. Nun bleibt den jungen Menschen noch nicht einmal mehr die Literatur als Flucht.